Ökologische Kipppunkte: Wenn die Natur aus dem Gleichgewicht gerät

Matthias Reichhart
vor 2 Tagen3 min. Lesezeit

Was hinter ökologischen Kipppunkten steckt

Ökologische Kipppunkte bezeichnen Schwellenmomente, an denen ein Ökosystem abrupt und dauerhaft in einen anderen Zustand übergeht. Sobald ein solcher Punkt überschritten wird, setzt eine Entwicklung ein, die sich kaum umkehren lässt. Forschende nutzen häufig das Bild einer fallenden Dominoreihe: Gerät der erste Stein ins Rutschen, entsteht eine Eigendynamik, die sich nur schwer stoppen lässt.

"Kipppunkte sind wie Schalter im Erdsystem. Werden sie umgelegt, kann dies zu grundlegenden und unumkehrbaren Veränderungen führen. Das Besondere an Kipppunkten ist, dass kleine Veränderungen große und plötzliche Folgen haben können."

Prof. Dr. Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung

Die zentralen ökologischen Kipppunkte

Schmelzen des arktischen Meereises

Das helle Eis reflektiert Sonnenlicht und trägt dadurch zur Kühlung bei. Wenn es schwindet, nimmt das dunkle Meerwasser mehr Wärme auf und verstärkt die Erwärmung.

Abschmelzen des grönländischen Eisschilds

Dieser Eisschild könnte den Meeresspiegel um rund sieben Meter anheben. Forschungen legen nahe, dass er sich einem kritischen Wendepunkt nähert.

Instabilität des westantarktischen Eisschilds

Auch dieser Eiskörper gilt als instabil. Ein Kollaps würde den globalen Meeresspiegel um mehrere Meter steigen lassen.

Auftauen des Permafrosts

In den gefrorenen Böden lagern große Mengen Methan und Kohlendioxid. Beim Auftauen gelangen diese Gase in die Atmosphäre und beschleunigen die Erderwärmung.

Veränderung der atlantischen Umwälzströmung AMOC

Das System, zu dem auch der Golfstrom gehört, verteilt Wärme zwischen Äquator und Nordatlantik. Eine Abschwächung würde das europäische Klima erheblich verändern.

 

"Die atlantische Umwälzströmung ist bereits so schwach wie seit mindestens 1.000 Jahren nicht mehr. Wir bewegen uns auf einen kritischen Punkt zu, an dem die Strömung zusammenbrechen könnte."

Prof. Dr. Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (2021, Nature Climate Change)

Absterben der Korallenriffe

Erwärmende Meere führen zur Korallenbleiche. Bei einer globalen Erwärmung von zwei Grad Celsius könnten fast alle tropischen Riffe verschwinden.

Absterben des Amazonas-Regenwald

Die zunehmende Entwaldung in Verbindung mit höheren Temperaturen bedroht die Stabilität des Regenwaldes. Unter bestimmten Bedingungen könnte sich das Gebiet in eine savannenähnliche Landschaft verwandeln.

Destabilisierung des indischen Monsuns

Verschobene Niederschlagsmuster wirken sich massiv auf die landwirtschaftliche Produktion aus. Mehr als eine Milliarde Menschen ist davon abhängig.

Absterben borealer Wälder

Die nördlichen Nadelwälder in Kanada, Skandinavien und Russland speichern große Mengen Kohlenstoff. Hitze, Trockenheit, Brände und Schädlingsbefall schwächen die Wälder und könnten ein großflächiges Absterben auslösen. Dadurch würde zusätzlich Kohlendioxid freigesetzt und die Rückstrahlkraft der Erdoberfläche verändert.

Wie weit wir bereits im roten Bereich sind

Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen ein zunehmend besorgniserregendes Bild. Der Weltklimarat weist darauf hin, dass mehrere Kipppunkte bereits in einem kritischen Bereich liegen. Hans Joachim Schellnhuber beschreibt die Situation als russisches Roulette mit dem Planeten (Schellnhuber, 2020, Proceedings of the National Academy of Sciences). Ob die entscheidende Kugel bereits läuft, lässt sich nicht sicher sagen. Klar ist jedoch, dass das Risiko weiter steigt.

"Wir spielen russisches Roulette mit unserem Planeten. Bei einigen Kippelementen haben wir möglicherweise bereits den Abzug betätigt, ohne dass die Kugel schon im Lauf ist."

Hans Joachim Schellnhuber (2020, Proceedings of the National Academy of Sciences)

Eine Studie im Fachmagazin Nature (2023) kommt zu dem Ergebnis, dass fünf der insgesamt sechzehn bekannten Kipppunkte bereits bei einer Erwärmung von 1,5 Grad Celsius aktiviert werden könnten. Diese Marke dürfte die Erde in naher Zukunft erreichen.

Wie es weitergeht

Welche Handlungsoptionen für Kommunen und Unternehmen besonders relevant sind und welche Kipppunkte Deutschland selbst betreffen, lesen Sie in Teil zwei dieser Reihe mit dem Titel Ökologische Kipppunkte: Wenn die Natur aus dem Gleichgewicht gerät.