Provokation oder Realität: Ist Nachhaltigkeit out?

Zwischen Bürokratieabbau, wirtschaftlichen und geopolitischen Unsicherheiten auf der einen Seite und den spürbaren Auswirkungen der Klimakrise, globalen Lieferkettenstörungen und Ressourcenknappheit auf der anderen entsteht ein Spannungsfeld, das uns alle betrifft. Eigentlich wollte der Green Deal dieses Dilemma lösen, doch Politik und Wirtschaft scheinen zunehmend versucht, kurzfristige Schadensbegrenzung über langfristige Nachhaltigkeit zu stellen.
In unserem etablierten Peer-to-Peer-Format bieten wir ESG-Manager*innen und Nachhaltigkeitsbeauftragten regelmäßig eine Plattform für den fachlichen Austausch. In kompakten einstündigen Sessions widmen wir uns aktuellen Herausforderungen. Unser nächstes Online-Treffen findet am 18. November um 16:05 Uhr statt. Im Fokus steht diesmal die provokante These: „Nachhaltigkeit ist out“. Ist der Nachhaltigkeitsboom tatsächlich vorbei oder erleben wir nur eine Neuausrichtung des Konzepts?
Um die Diskussion anzuregen, haben wir bereits vorab die Expertinnen und Experten unserer Genossenschaft Zukunftswerk nach ihrer Einschätzung gefragt.
Während vielerorts der Eindruck entsteht, Nachhaltigkeit habe ihren Zenit überschritten, sehen andere in dieser Entwicklung eher eine notwendige Korrektur. Eine Rückkehr zum Wesentlichen, weg vom Hype, hin zur Substanz. Zukunftswerk-Vorstand Alexander Rossner formuliert es pointiert:
"Nachhaltigkeit ist nie ‚in‘ gewesen, sie war immer überlebenswichtig. Vielleicht hat sie an medialem Glanz verloren, aber nicht an Substanz. Gerade jetzt entscheidet sich, wer Nachhaltigkeit wirklich verstanden hat und wer sie nur als Trend genutzt hat."
Alexander Rossner

Während Alexander die grundsätzliche Bedeutung von Nachhaltigkeit betont, lenkt Eva den Blick auf die Realität im Unternehmensalltag. Sie versteht die Zwänge der Wirtschaft, warnt jedoch vor den langfristigen Risiken kurzfristiger Entscheidungen:
"Ich verstehe, dass viele Unternehmen in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten andere Prioritäten setzen müssen. Doch die Versuchung, Nachhaltigkeit aufzuschieben, ist trügerisch. Die Folgen zeigen sich längst in Extremwetterereignissen, knapper werdenden Ressourcen, steigenden Kosten und einer wachsenden gesellschaftlichen Erwartung an verantwortliches Handeln, auch hier in Deutschland."
Eva Schmider

Evas Appell verweist auf eine Realität und den Balanceakt, der vielen Unternehmen nur allzu vertraut ist. Julia erinnert an das Fundament, auf dem alles ruht: die natürlichen Lebensgrundlagen. Und hält dagegen: Der Diskurs um Nachhaltigkeit sei nicht überholt, sondern dringlicher denn je:
"Nachhaltigkeit ist keineswegs out. Im Gegenteil, der Druck auf unsere Natur wächst ständig. Trotzdem werden Regeln oft aufgeweicht oder verschoben. Das ist frustrierend, denn es ist klar: Wir müssen handeln, sonst verlieren wir wichtige Lebensgrundlagen."
Dr. Julia Huber

Steven beobachtet eine deutliche Ernüchterung im Umgang mit Nachhaltigkeit: „Ja, Nachhaltigkeit ist out. Zumindest im politischen und gesellschaftlichen Mainstream.“ Er führt diesen Wandel auf mehrere Faktoren zurück: Auf die Rückkehr der Klimawandelleugner durch die Trump-Administration, auf die wirtschaftlich angespannte Lage in Europa und auf einen allgemeinen Rechtsruck. All das habe, so Steven, „den Mut vieler Regierungen sowie der EU erlahmen lassen“. Der politische Wille, an ehrgeizigen Zielen festzuhalten, sei geschwunden und „der Pragmatismus des Machterhalts siegt“.

"Solange Nachhaltigkeit eine Vision blieb – abstrakt, moralisch, marketingtauglich – war sie leicht zu bekennen. Doch der Schritt von der Absicht zum Handeln offenbart nun, wie brüchig viele dieser Bekenntnisse waren. Politik und Wirtschaft, jahrelang stolz auf grüne Strategien, meiden nun die Konsequenzen ihres eigenen Anspruchs. Deutlicher als in der deutschen Autoindustrie lässt sich das kaum beobachten: Dort zählt am Ende die Rendite – der Verbrenner bleibt lukrativer als das Elektroauto. Die deutsche Politik folgt."
Steven Reich
Auch auf europäischer Ebene sieht Steven Fehlentwicklungen. Zwar habe die EU mit komplexen Regelwerken Verwirrung gestiftet, doch statt gezielt zu vereinfachen, würden die Ziele verwässert. „So verliert Europa Richtung, Glaubwürdigkeit und Gestaltungswillen“, resümiert er.
Nachhaltigkeit, so Steven, sei nicht deshalb aus der Mode geraten, weil sie an Relevanz verloren habe, sondern weil sie unbequem geworden sei. „Solange Macht und Märkte lieber verdrängen als verändern, wird sie es bleiben. Wohl noch bis mindestens 2028.“ Und dann fügt er warnend hinzu: „Nur schade, dass es für viele Ziele, allen voran das 1,5-Grad-Ziel, dann längst zu spät ist.“
Stevens Analyse zeichnet ein eher düsteres Bild; eines, in dem politischer Pragmatismus über Weitsicht siegt. Doch jenseits der großen Bühnen geschieht leise das Gegenteil: Menschen und Unternehmen handeln entschlossen, oft ohne Applaus, aber mit Überzeugung. Zu ihnen zählt Matthias Reichhart, der betont:
"Nachhaltigkeit bedeutet für mich, die Lebensgrundlagen für kommende Generationen zu bewahren. Während die Politik Angst vor der eigenen Courage hat und eine Rolle rückwärts nach der anderen vollzieht, gibt es mutige Unternehmerinnen und Unternehmer, die enkeltaugliches Wirtschaften mit Leben füllen. Dieses Engagement ist nicht immer weithin sichtbar. Dennoch ist der Begriff und die damit verbundene Haltung keineswegs out."
Matthias Reichhart

Was bleibt also von der Frage, ob Nachhaltigkeit „out“ ist? Vielleicht die Einsicht, dass die eigentliche Gefahr nicht in der Ermüdung des Begriffs liegt, sondern in der Gleichgültigkeit, die ihm zu begegnen droht. Zwischen politischer Mutlosigkeit und unternehmerischem Idealismus zeigt sich, dass es längst nicht um Trends geht, sondern um Prinzipien:
"Nachhaltigkeit sollte weder ‘in’ noch ‘out’ sein. Sie sollte endlich als eine Sorgfaltspflicht von Individuen, Unternehmen und Politik begriffen werden, die wir den nachfolgenden Generationen, unserem Planeten und letztlich uns selbst schuldig sind."
Katrin Tremmel
